Alexander Nikolic: Bastarde und Agenten
1,7 Millionen Gehirne leben in Wien. Steht zumindest an den Rändern dieser Stadt. 1,7 Millionen Gehirne brauchen circa 3,4 Millionen Schuhe, um nicht bloßfüßig herumzulaufen. Vorausgesetzt, diese Gehirne verfügen über beide Beine. Im Winter wären das 3,4 Millionen Handschuhe, wobei schätzungsweise gibt es sicher mehr Einarmige als Einbeinige. Vielleicht ist das aber auch eine Fehleinschätzung, weil Einarmige besser herumlaufen können. Sind sie einfach nur sichtbarer? Fragen über Fragen.
Laut Medienberichten entziehen sich mindestens 80 Menschen dem überwältigenden Kunst- und Kulturangebot unserer Stadt, um in Syrien für einen islamistischen Staat zu kämpfen. Zigtausende Menschen in Wien haben Krieg hautnah miterlebt und sich anhand ihrer kollektiven und individuellen Identitätsmerkmale – ihrer Schichtzugehörigkeit und ihrer kulturellen Sozialisation – auch teilen und beherrschen lassen. In diesem Prozess spielen Kunst und Kultur eine sehr wichtige Rolle.
Im Umfeld der freien Kunst- und Kulturszene in Wien und auch international beherrschen Diskurse rund um Problemstellungen wie Repräsentation, Emanzipation und Partizipation das theoretische Feld. In der Praxis muss man sich in diesen Zusammenhängen aber dann oft mit den Widersprüchen der kapitalistischen Ökonomie herumplagen. Oft wird jenen, welchen im theoretischen Bereich die unterschiedlichen Begriffedes Anderen zugeschrieben werden, trotz besseren Wissens, nur die Rolle eines Objektes überlassen. In vielen Fällen auch noch unbezahlt, und die Kapitalisierung des symbolischen Kapitals ist dann meist nur den InitiatorInnen möglich. Im Prinzip muss das nicht unbedingt nur schlecht sein, denn oft gibt es keine Wahl, und zwischen den AkteurInnen gibt es vielleicht ein stillschweigendes Übereinkommen, eine Regulierung, wie es doch zu einer fairen Interaktion oder Umverteilung kommen kann, die niemanden ausschließt.
Es fällt mir schwer, auf 5000 Zeichen zu argumentieren, wie wir zu so einem kulturpolitischen Begriff kommen könnten, denn dazu müssten wir ehrlicherweise konstatieren, dass wir eine Interessengemeinschaft sind, in der das Politische selten den Sprung über unsere eigene Schicht hinaus schafft. Es gibt in dieser Stadt, obwohl eine der reichsten und lebenswertesten der Welt, trotzdem zu wenig Geld für unsere freie Szene, und leider haben wir es bisher auch nicht geschafft, dass unsere IG die Vielfalt unserer Stadt abbildet.
Diese Vielfalt muss und sollte sich jede Organisation erarbeiten können. Persönlich, als Obmann eines Vereines der seit seiner Gründung Mitglied ist, möchte ich mich keineswegs aus der Schuld nehmen, aber – unser gemeinsames Wir – die IG Kultur Wien muss daran arbeiten, dass wir unseren Begriff von Kultur und Kulturpolitik so überdenken, dass kein elitärer und selbstreferenzieller Kulturbegriff dominiert, kein „preaching to the converted“, oder eine Reduktion auf das Schöne, dem immer öfter das simple Kaschieren von sozialen und ökonomischen Zusammenhängen bitter anhaftet.
Wollen wir ein kulturelles Angebot, welches uns auf einer symbolischen Ebene Partizipation und Geichberechtigungen vorgaukelt, wo uns MigrantInnen auf der Bühne des Volkstheaters ihre Nutzbarkeit für und Fähigkeit zur Hochkultur unter Beweis stellen müssen? Ja, wir wollen das, aber wir wollen auch Kunst, welche die sozialen Spannungen, die Konflikte auch zeigt und damit arbeitet. Wir brauchen auf einer breiten Ebene einen Ort des Diskurses und des Erfahrungsaustausches und ich hoffe, dass die IG Kultur Wien zu so einem Ort werden kann.
Einem Ort, wo wir als Bastarde unserer Disziplinen zu Agenten einer Veränderung werden können. Dazu müssten wir unsere Agenden erweitern, Interdisziplinarität auch einfordern und die IG Kultur Wien wenigerals Serviceeinrichtung wahrnehmen, sondern als eine politische Organisation, die auch die kulturelle Vielfalt dieser Stadt anders wahr- und ernst nimmt – und vor allem bereit ist, konstruktive Konflikte zu ermöglichen, zu suchen und zu führen.
Alexander Nikolic ist Theatermacher, Kunstarbeiter und Aktivist sowie Initiator von internationalen Projekten.