Dezentrale Kulturpolitik: Für alle und mit allen?
von Raphael Kiczka
Dezentrale Kulturarbeit ist ein wichtiger inhaltlicher Schwerpunkt im Kulturprogramm der Stadt Wien. Unter dem Motto „Wien hat Kultur: Für alle, mit allen“ wird im Regierungsübereinkommen 2015 [1] anerkannt, dass es nicht nur Hochkultur in der Inneren Stadt braucht, sondern eine kulturelle Nahversorgung in allen Stadtteilen. Wien wächst, und dies soll auch die kulturelle Infrastruktur tun, besonders in den Außenbezirken und Stadterweiterungsgebieten. Dies macht Sinn, denn Kultur schafft Orte, wo Menschen zusammenkommen, diskutieren, kritisieren oder gemeinsam tanzen – im Idealfall über Grenzen von Milieu und Herkunft hinaus. Wo jene soziale Interaktion entsteht, welche die Qualität eines Grätzls und einer Stadt ausmacht. Die stärkere Vernetzung und Sichtbarmachung von lokalen Initiativen und Angeboten ist ein richtiges Ziel. Offene, (kostenfreie) Kulturangebote müssen gefördert, lokale Initiativen gestärkt werden. Die Förderung von Straßenkunst und die stärkere Öffnung von Bezirksmuseen zeigt den Willen, dass Kultur für alle Stadtbewohner_innen erlebbar sein soll.
Wenn die aktive Pflege dezentraler Kultur- und Bildungseinrichtungen im „Roten Wien“ als Erfolgsmodell angeführt wird, dann zeigt sich: Kulturpolitik und Stadtentwicklung werden zusammengedacht – und dies muss auch so sein.
Eine dezentrale Kulturpolitik braucht Geld und vor allem Raum. Sonst bleibt das Regierungsübereinkommen eine Aneinanderreihung von Worthülsen und Willensbekundungen.
Und tatsächlich wird zwar eine „starke öffentliche Kulturförderung“ gefordert, aber eine Budgeterhöhung steht nicht im Programm. Auch kein Wort über die notwendige Umverteilung an eben jene Akteur_innen, die lokal wirken. Dies sind eben nicht die großen Häuser, sondern jene Projekte, die vor allem aus der freien und autonomen Kunst- und Kulturszene erwachsen. Initiativen, die schon seit Jahren im Grätzl arbeiten, guten Kontakt mit den Menschen vor Ort aufgebaut haben und so wirklich eine kulturelle Nahversorgung und die gewünschte „aktivierende“ Kulturpolitik bieten.
Wie also Initiativen ermöglichen, ohne den Akteur_innen mehr Geld zur Verfügung zu stellen oder grundsätzlich in den Immobilienmarkt einzugreifen, um Mieten zu senken?
Zwischennutzung von Leerstand scheint die Zauberformel zu sein, um Möglichkeiten zu schaffen, ohne wirklich etwas zu verändern. Die Agentur „Kreative Räume Wien“ soll das Werkzeug sein, was ab Herbst 2016 zwischen Raumsuchenden und Eigentümer_innen vermittelt.
Doch Zwischennutzung bedeutet oftmals Hop-on-hop-off-Betrieb: sich prekär für die Kulturschaffenden und mit wenig Möglichkeiten für die Bewohner_innen des Grätzels längerfristig einzubringen. Das im Regierungsübereinkommen vorgestellte „best practice“ Beispiel der Brunnenpassage kann vor allem deshalb die Menschen vernetzen und ihnen als verlässlicher Ansprechpartner_in zur Verfügung stehen, weil es kein Projekt ist, das auf ein oder zwei Jahre begrenzt ist, sondern durch jahrelange und andauernde Arbeit im Grätzel ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte. Dezentrale Kulturpolitik braucht damit nicht nur Geld und Raum, sondern auch Zeit, auf dass lokales Wissen, Austausch und Vertrauen entstehen kann und künstlerische oder kulturelle Projekte keine Fremdkörper bleiben, sondern für alle und mit allen wirken können.
Die Verkürzung von Leerstandsnutzung auf Zwischennutzung scheint nur dann Sinn zu machen, wenn Kulturpolitik und Stadtentwicklung in einer bestimmten Weise zusammengedacht werden: Kultur als Werkzeug der Stadtteilaufwertung und Trumpf im Standortwettbewerb.
So sieht die Agentur ihre Aufgabe auch darin, Wiens „Positionierung als internationale Metropole in der Kultur- und Kreativwirtschaft“ (HP Kreative Räume Wien) zu stärken. Erfahrungen zeigen, dass die „Attraktivierung“ von Stadtteilen durch Künstler_innen und Co. auch negative Effekte haben kann, etwa steigende Mieten. Mögliche längerfristige Verdrängungsprozesse durch Zwischennutzungen werden jedoch außer Acht gelassen oder willentlich akzeptiert. Eine „Kulturpolitik der Gerechtigkeit“ , die langfristig Lebensqualität für alle in der Stadt erhöhen will, sieht sicherlich anders aus.
Wenn dieser Anspruch ernst genommen würde, dann wäre ein logischer Schritt der Stadt Wien, eigene Immobilien, welche schon Jahre oder Jahrzehnte leerstehen, auf Betriebskostenbasis und langfristig zur Verfügung zu stellen. Dies könnte ein konkreter und wichtiger Schritt sein, der dezentrale Kulturpolitik fördert und damit nicht bei einer rhetorischen Beschwörung einer partizipativen und inkludierenden Kulturpolitik stehenbleibt. Auch eine enge Zusammenarbeit mit potenziellen Nutzer_innen von Leerstand durch ihre strukturelle Einbindung in die Arbeit der Agentur wäre ein wichtiger Schritt. Im Juni 2016 hat sich auf Einladung der IG Kultur Wien ein Nutzer_innenbeirat konstituiert. Als Schnittstelle zwischen Agentur und einem breiten Nutzer_innenspektrum könnte er diverse Interessen bündeln und kommunizieren, die Agentur beraten, Transparenz schaffen und aktiv dafür sorgen, dass nicht nur bestimmte Nutzer_innengruppen zum Zuge kommen. Dies schafft notwendige Bedingungen für Kulturschaffende, um jene diverse und dezentrale kulturelle Nahversorgung aufzubauen, die im Regierungsübereinkommen verlangt wird. „Kreative Räume Wien“ ist zwar durchaus offen für Gespräche mit Nutzer_innen, zu einer strukturellen Einbindung des Nutzer_innenbeirats ist es bis jetzt jedoch nicht gekommen. Wie sich die Arbeit der Agentur im Spannungsfeld von Aufwertungsinteressen, Standortmarketing, Förderung der Kreativwirtschaft und den Forderungen von sozialen, künstlerischen, kulturellen und politischen Initiativen nach kostengünstigem Raum zum Arbeiten entwickeln wird, ist offen. Dies wird wohl auch vom „Druck von unten“ abhängig sein und der Lautstärke, in der eine mutige und kluge Leerstandspolitik eingefordert wird, bei der keine_r leer ausgeht.
Wesentlich für Dezentrale Kulturpolitik für alle und mit allen wäre auch, eben jene Projekte und Impulse zu stärken, die sie jetzt schon umsetzen.
Aber Beispiele wie das Kunst- und Kulturprojekt mo.ë im 17. Bezirk, das Luxuslofts weichen soll und gegen seine Räumung kämpft oder das Ende des Ragnarhofes zeigen an, dass von der Stadt wenig faktische Unterstützung kommt, um funktionierende Kulturprojekte in den Außenbezirken vor Verdrängung zu schützen und ihr Weiterbestehen zu ermöglichen. Im Regierungsübereinkommen wird zwar so getan, als ob dies ohnehin schon erreicht wäre: „Nicht profitorientierte Aktivitäten haben ausreichend Platz in der Stadt“ und „die Stadt hat offene, für alle zugängliche, inklusive Kulturräume und -angebote“. Der Überlebenskampf des Amerlinghauses, der aufgrund fehlender Anpassungen der Förderungssumme vonseiten der Stadt fast schon traditionell geworden ist, verdeutlicht jedoch, dass diese Räume kaum wirkliche Unterstützung bekommen und von ausreichend Platz keine Rede sein kann. Besonders dieses Beispiel lässt an der Ernsthaftigkeit jener Aussagen zweifeln, gibt es doch kaum ein Projekt, welches stärker für nicht-profitorientierte, offene und interkulturelle Kulturräume steht.
„In Wien haben Hoch-, Populär- und Subkultur gleichberechtigt Platz“, heißt es weiter im Regierungsübereinkommen. Dies ist zwar ein schöner Wunsch, hat aber mit der Realität städtischer Politik nichts zu tun oder basiert auf relativer Unkenntnis subkultureller Aktivitäten. Ein wichtiger Teil der sub- oder gegenkulturellen politischen Praxis ist immer die Schaffung von Freiräumen gewesen, wo ausgehend von einer Kritik an herrschenden und als repressiv empfundenen Normen mit Alternativen experimentiert und anders als im Mainstream gelebt, gefeiert und geliebt werden kann. Die Schaffung von Freiräumen fordert nun auch die Stadt Wien. Dies mag auf den ersten Blick all jene überraschen, die schon einmal mit dem Auflagendschungel oder Behördeneingreifen bei sub-/gegenkulturellen Veranstaltungen oder der Repression bei aktiven Raumnahmen konfrontiert gewesen sind. Auf dem zweiten Blick wird jedoch deutlich, dass es hier nicht um eine Ermöglichung alternativer Kulturpolitik und die Aufnahme der lokalen Impulse geht, zu der die Politik und Verwaltung bisher ablehnend gegenüberstand. Vielmehr geht es bei der Schaffung von Freiräumen um Performances in Parks, vor dem Einkaufszentrum oder am Hauptbahnhof – also einfach um die Bespielung des öffentlichen Raumes durch Veranstaltungen. Ob diese Events jene vielfältigen Orte bieten, „an denen die Gesellschaft mitgestaltet werden kann“, kann mit bestem Gewissen bezweifelt werden. Eine offene Politik, die Initiativen zulässt, die der Verwaltung und den etablierten Politiker_innen erstmal fremd sind, also bewusst Experimentierräume und selbstorganisierte Prozesse akzeptiert, könnte die Schaffung dezentraler Kulturangebote viel mehr fördern, als „von oben“ organisierte Spektakel. Während Ersteres wirklich den Bewohner_innen zugute kommt, scheint Zweiteres eher der Belustigung und simplen Unterhaltung von Tourist_innen zu dienen.
Eine dezentrale Kulturpolitik macht Sinn. Damit sie aber wirklich für alle und mit allen wirken kann, braucht es Geld, Raum und Zeit – für die lokalen Initiativen und Projekte, die es schon gibt und für jene, die noch kommen werden. Eine mutige Leerstandsnutzung kann Räume für alle öffnen und damit Bedingungen für eine sinnvolle dezentrale Kulturpolitik schaffen. Eine Engführung auf Zwischennutzungen, auf die „kreative Wirtschaft“ als Nutzer_innengruppe und eine fehlende strukturelle Einbindung von Nutzer_innen in die Arbeit der Agentur kann diese Möglichkeit aber auch leicht wieder verspielen.
Schöne Worte reichen nicht, es braucht gut durchdachte und konkrete Umsetzungen, die sich budgetär und inhaltlich niederschlagen müssen. Offenheit der Politik für den Erfahrungsschatz und die Expertise der Kulturschaffenden ist dabei notwendige Voraussetzung. Die Unterstützung von „Good practice“-Beispielen wie dem mo.ë , dem Amerlinghaus und anderen wären ein wichtiger erster Schritt.
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[1] Quelle: „Wien hat Kultur: Für alle, mit allen“, in: Eine Stadt, zwei Millionen Chancen. Das rot-grüne egierungsübereinkommen für ein soziales, weltoffenes und lebensertes Wien, 122–129, 2015 www.wien.gv.at/politik/strategien-konzepte/regierungsuebereinkommen-2015/