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Sind wir jetzt frei?

Initiativen der freien und alternativen Kunst- und Kulturszene in Zeiten der andauernden Krise

von Sandro Nicolussi

 

Beginnen wir mit einer Rückblende: Als dieser Text Mitte Juni 2021 getippt wird, klingt gerade die dritte Welle der Covid-19-Pandemie in Europa ab. So meint man das zumindest. Klarheit oder besser: Gewissheit gibt es in dieser Sache – und das ist bereits die erste Analogie zur alternativen Kunst- und Kulturszene – keine. Denn die Coronakrise war vermeintlich schon mal „zu Ende“, nämlich im Sommer 2020, bevor im darauffolgen-den Herbst und Winter die verheerendste Welle über uns hereinbrach. An diesem Zeitpunkt kriselte es in weiten Teilen der Gesellschaft – vor allem aber in jenem, der ein Dreivierteljahr ohne Perspektive ausharrte. Jeder noch so kleine Hoffnungsschimmer auf Besserung, auf eine Rückkehr zur „Normalität“, wurde wahlweise durch Pandemie-Missmanagement oder ignorante Entscheidungsträger*innen im Keim erstickt. Dass diese soge-nannte alte, neue oder andere Normalität für viele Betroffene wohl nicht vielversprechender gewesen wäre als die vorangegangenen Lockdowns, in denen seitens des Bundes und der Stadt Wien zumindest einiger-maßen niedrigschwellige finanzielle Unterstützungen geleistet wurden – geschenkt.

Die Pandemie hätte verhindert werden können, das steht im Nach-hinein fest. Wie, darüber gehen die Meinungen, die nicht selten aus Unwissen entspringen, auseinander. Klar ist allerdings, dass die Pande-mie hausgemacht war, wie auch viele Probleme, die aus ihr entsprangen beziehungsweise schon länger bestanden und lediglich durch sie verstärkt wurden. Währenddessen bröckelte auch das Narrativ von der „Krise als Chance“, weil sich nach und nach zeigte, dass die Verkrustungen der Problemstrukturen mehr Arbeit und Umkrempeln benötigten, als es ein wake-up call in unsichtbarer Form loszutreten vermochte. Und während all zu oft die Krise ohnehin erst in der Pandemie verortet wurde, dämmert nun langsam, dass der Krisenzustand schon länger andauert und andau-ern wird – wo und wie man diese auch benennen und verorten will, sie ist omnipräsent, und die Frage nach dem „Danach“ erübrigt sich bereits im Moment des Gestellt-Werdens. Schwer vorstellbar, was es benötigt, um zu lösen, worin wir uns als Gesellschaft in Österreich, Europa und überall auf der Welt verstrickt haben. Wobei: Im Prinzip scheint eher der Weg dorthin schwer vorstell- beziehungsweise umsetzbar. Die Konzepte liegen – und das ist die zweite Analogie zur alternativen Kunst- und Kulturszene – bereits in den Schubladen und warten auf hochgekrempelte Ärmel und (politische) Entschlossenheit. Inwiefern die Szene – und damit auch die Community als Teil der Gesellschaft – in den vergangenen Monaten Kurs aufnahm, will dieser Text beleuchten. Um die bereits stark komprimierte Zusammenfassung dabei möglichst simpel zu halten, wird weitestgehend auf konkrete Beispiele verzichtet – diese finden sich ohnehin im Hauptteil dieses Katalogs, nämlich unter den zahlreichen neuen, etablierteren und einmaligen Einreichungen.

Ein Begriff, der im Zuge der durch die Pandemie deutlich erschwer-ten Kunst- und Kulturarbeit immer häufiger fiel, war Nachhaltigkeit. Sie wurde – und das ist als sehr positiv zu bewerten – aus vielen ver-schiedenen Perspektiven und Disziplinen ge- und bedacht, und einige Strukturen, die bisher unhinterfragt und damit oft auch unnötig Res-sourcen verschwendeten, wurden plötzlich aus der Notsituation heraus neuen Evaluierungen unterzogen. Diese beginnen mit der Frage, ob denn zukünftig nicht die Kommunikation via Videochat für gewisse Meetings – vor allem, wenn sie für einzelne mit weiten Fahrtstrecken verbunden sind – trotz des unpersönlicheren Charakters zu bevorzugen sind. Weiters wurde aufgrund der Reiseeinschränkungen großzügig darüber nachge-dacht, wie verstärkt auf personelle und kreative Ressourcen in lokalen Szenen zurückgegriffen werden kann, was Platz für eher unbekannte For-mate schaffte, die bisher unter die Räder internationaler Produktionen oder Acts gekommen waren, die schlicht besser funktionierten und mehr Umsatz versprochen hatten. Ebenfalls ein Hinweis auf die Wichtigkeit der bestehenden Förderstrukturen und deren überfällige Anpassungen auf neue Situationen, Arbeitsweisen und wachsenden Herausforderungen wie Konkurrenzdruck. Dass beispielsweise Werkförderungen in Arbeitssti-pendien umgewandelt werden könnten und sollten, um im Kunstbereich sinnvolles Agieren zu ermöglichen, wird bereits länger rigoros gefordert.

Im Zuge der stellenweisen Digitalisierung der Kommunikation wurde auch nicht zuletzt der künstlerische Output aus reiner Pragmatik in den digitalen Raum verlegt. Das hatte zwei große Effekte: Einerseits konnte „neues“ Publikum erschlossen werden – die Anführungszeichen, weil das mitunter gewachsene Publikum zwar insofern nicht wirklich neu ist, als dass große bestehende Zugangshürden aufgebrochen wurden, aber dennoch Menschen außerhalb gewisser örtlicher Beschränkungen erreicht wurden. Andererseits wirkten sich neue Herausforderungen in den geänderten Produktions- und Darstellungsbedingungen positiv auf die Problemlösungskreativität aus. Allerdings zeigten gerade die digi-talisierten Formate die Problematiken der finanziellen Verwertbarkeit von Kunst- und Kulturbetrieb auf. Einerseits ein Grund zur Freude, weil deutlich wird, welche Zustände überwunden gehören. Andererseits frust-rierend, machten die vergangenen Jahre doch weniger den Anschein, dass gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen in die Richtung gehen, in die sie zur Emanzipation derartiger Abhängigkeiten gehen müssten. Während pay-as-you-wish, also auf freiwilligen Spenden basierende Formate für manche Sparten wunderbar funktionierten, wurden andere bitter enttäuscht, obwohl die Angebote für das Publikum in vielerlei Hin-sicht niedrigschwelliger wurden, schlussendlich finanzielle Erwartungen dennoch enttäuscht blieben. Das zeigt, dass auch der Wechsel in den digi-talen Raum die Grundbedingungen der Akteur*innen in Kunst und Kultur nicht ändert, legt den Fokus aber vermutlich auch zukünftig genauer auf eben jene Strukturen, die diese Probleme bedingen.

Destruction is creation. Die große Disruption zwang die lokale Szene maßgeblich zur szeneübergreifenden und interdisziplinären Koopera-tion, die bislang nicht selten vom konstruierten Ellbogen-raus-Verhalten verunmöglicht, wenn nicht aktiv abgelehnt wurde. Das führte zu inte-ressanten Verschränkungen, zu neuen Solidarisierungen und mitunter sogar zur Entstehung neuer Initiativen. Hauptsächlich war das im Bereich der Clubkultur – dieser wird in diesem Jahr nicht von ungefähr erstma-lig ein Sonderpreis der freien Szene gewidmet – zu beobachten. Dort wogen bisher die Problematiken im Umgang mit dem Anspruch auf Internationalität, ohne die lokale Szene aus den Augen zu verlieren oder zu übergehen, besonders schwer. Die Anzahl an Clubs ist beschränkt, und viele Locations verknappen das Angebot durch den roten Faden der Programmierung – an dem per se nichts auszusetzen ist, wenn es denn genügend gleichwertigen Raum gäbe, was wiederum möglich wäre – zusätzlich. Regelmäßige Stürme auf Terminbuchungen waren die Norm, dass einzelne Kollektive, die zu spät dran waren, ein ganzes Jahr oder mehr auf brauchbare Termine warteten oder sich mit Slots zufrieden-geben mussten, die Zufriedenheit besonders schwer machten, auch. Die Eintrittsschwelle in die Szene, die sich vorrangig mit ihrer Offenheit rühmt, war und ist nach wie vor sehr hoch. Mit dem gemeinsamen Nenner der Pandemie und dem Wegfallen bis-heriger Konkurrenzsituationen kam es zur neuen Zusammenarbeit untereinander. Kollektive, die bisher wenig Möglichkeit oder Willen zu Überschneidungen hatten, tüftelten plötzlich an gemeinsamen Formaten, Releases wurden vernetzter abgesprochen und getimt, und die kollektive Energie wurde vermehrt in Richtung jener auf- und angewandt, die noch mehr zu kämpfen hatten.

Gebündelt wurde das in der Arbeit, die das Pilotprojekt zur Vienna Club Commission leistet, die Anfang des Krisenjahres 2020 erstmals mit rund 300.000 Euro von der Stadt Wien gefördert und vom mica – music infor-mation center austria verwaltet und beheimatet wurde. Ursprünglich als Service- und Beratungsstelle gedacht, wurde die Evaluierungsphase der Szenebedürfnisse durch die Covid-19-Pandemie unterbrochen und die Vienna Club Commission zur Vernetzungs- und Informationsdrehscheibe. Ebenfalls in der Pandemie gründete sich die IG Club Kultur als Initiative, wie auch die IG Kabarett ihre Gründung fand. Aus beiden Organisationen entstanden in Kooperation mit Szene-Akteur*innen immer neue Konzepte zu safer clubbings in Zeiten der Pandemie. Wo bisher Solidarität und Awareness innerhalb der Clublocations großgeschrieben wurde, wirkte man nun also auch direkt auf Politik und Gesellschaft ein. Von Seiten der Clubs als Infrastruktur wurde ebenfalls an der Pandemiebekämpfung beziehungsweise an der Symptombekämpfung im weiteren Sinne gear-beitet, etwa durch die Einrichtung von Testlabors und Kochmöglichkeiten für bestehende soziale Initiativen. Das übergeordnete Problem: Die Politik wollte oder konnte nicht hören. Das betrifft allerdings weniger nur die neuartigen Konzepte als vielmehr die gesamte Szene und weiters die grundsätzlichen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Vor-gänge, die den dringend notwendigen radikalen Sinneswandel hemmen.

Letztlich bleibt in der freien und alternativen Kunst- und Kulturszene also einiges im Argen.

Es konnten aber auch die komplex verzweigten Zusammenhänge und Netzwerke, die weit über die Bundeshauptstadt und nationale Grenzen hinaus wirken, erkannt und genutzt werden, was wiederum Hoffnung für solidarisches Handeln in der Zukunft gibt. Will die alternative Szene ihren eigenen Fortbestand und damit laufenden Mehrwert für die Gesellschaft, künstlerisches Experimentieren, Austausch und Begegnung sichern, ist sie gut beraten, diese Entwicklungen weiterhin zu forcieren.