Nach wie vor.
Nach Covid ist vor Covid.
von Sven Hartberger
Wie kann es in der alternativen Kulturszene nach bzw. mit Covid wei-tergehen? Wie kann sich die freie Szene krisensicher aufstellen? Welche Möglichkeiten der Veränderungen bieten sich gerade? Wie kann sie sich finanzieren? Die IG Kultur Wien möchte diese Fragen einmal nicht von der Kulturpolitik, sondern aus der Perspektive eines zukunftsorientierten Wirtschaftsmodells, der Gemeinwohl-Ökonomie, beantwortet haben.
Diese offensive Verknüpfung von Kultur mit Wirtschaft mag auf den ers-ten Blick überraschen. Tatsächlich trifft sie den Kern aller Fragen, die uns aktuell beschäftigen. Aber schön der Reihe nach und deshalb vorweg: Für die Annahme einer durch den Ausbruch der Pandemie markierten Zeitenwende, einer Vor- und einer Nach-Covid-Ära, gibt es keinen ver-nünftigen Grund. Die Pandemie bedeutet keinen Wendepunkt, sie wird keine Probleme lösen und keine neuen Möglichkeiten eröffnen. Die Pan-demie wird keine neuen Antworten auf alte Fragen hervorbringen, und sie wird auch nicht das Geringste an Haltungen und Verhaltensweisen ändern. Es ist deutlich sichtbar, dass absolut niemand von Covid-19 zu neuen Anschauungen, Einsichten und Bewertungen gebracht wird. Im Gegenteil: Egal, aus welcher Perspektive die Pandemie kommentiert wird, eine Konstante ist ausnahmslos feststellbar, nämlich dass alle Kommen-tatoren die Geschehnisse als Beleg für die Richtigkeit dessen betrachten, was sie schon immer gewusst und gesagt haben. Das beginnt bei den Impfgegner*innen und endet bei den Ökonom*innen. Wer irgendjemanden kennt, dessen Meinungen durch die Pandemie grundlegend oder zumin-dest in spürbarer Weise verändert worden sind, wird um Mitteilung an die Redaktion gebeten.
Es gibt auch deshalb keinen Anlass, über eine neue Zeit nach Covid nach-zudenken, weil die Katastrophe vergleichsweise klein und unbedeutend ist. Ins Verhältnis gesetzt zum mittlerweile als Alltagsnormalität ignorier-ten Aussterben von tagtäglich 150 Arten oder zu den absehbaren Folgen des Klimawandels, ist die Pandemie nicht der Rede wert. Und selbst die Zahl der Todesopfer findet nur deshalb so große Beachtung, weil es diesmal auch die Menschen im globalisierten Norden trifft. In Afrika und Asien verhungern alljährlich doppelt so viele Menschen, wie bisher weltweit an der Viruserkrankung gestorben sind. Dass diese Tatsache zu Maßnahmen der Staatengemeinschaft geführt hätte, die in Umfang und Aufwand jenen zur Bekämpfung der Pandemie auch nur nahekämen, ist bisher nicht bekannt geworden.
Wie es also mit und nach Covid weitergehen wird in der alternativen Kulturszene, ist leicht zu vorherzusagen: genauso wie in allen ande-ren Bereichen auch. Und das bedeutet: genauso wie bisher. Nach dem Ende der Pandemie wird ein bisschen aufgeräumt werden, Besitzstände werden nicht angetastet werden – wegen der Heiligkeit des Eigentums-rechtes, nämlich –, und also werden die Schwächsten und die Ärmsten auf vielfältige Weise den wirtschaftlichen Schaden zu tragen haben, der entstanden ist. Ändern wird sich rein gar nichts: Die freie Szene wird sich nach Covid auf dieselbe Weise krisensicher aufstellen können wie vor Covid, nämlich gar nicht. In Hinblick auf die Finanzierung von Kulturar-beit werden auch weiterhin zwei Möglichkeiten zur Verfügung stehen: öffentliche und private. Und es werden sich für die alternative Kultur-szene keine Möglichkeiten der Veränderung bieten, die es nicht auch vor Covid schon gegeben hätte.
Weil diese Prognose der IG Kultur Wien wahrscheinlich nicht vollkommen verfehlt, aber offenbar wenig erfreulich oder doch zumindest unbefriedi-gend erscheint, sucht sie Antworten bei der Gemeinwohl-Ökonomie, einer zehn Jahre jungen Bewegung, die sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit international etabliert und in Sachen Veränderung einen Namen gemacht hat. Die Antworten der Gemeinwohl-Ökonomie für die alternative Kultur-szene unterscheiden sich allerdings in nichts von jenen für jeden anderen Bereich: Da die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens aktuell wesentlich von wirtschaftlichen Einzelinteressen definiert und dominiert werden und der Einfluss von Großkonzernen und Hochfinanz auf unser aller Leben jenen von Politik und gewählten Regierungen längst überholt und beiseite gedrängt hat, wird sich in keinem Einzelbereich Entschei-dendes verändern, wenn der Primat demokratisch nicht kontrollierter Partikularinteressen vor unseren mit der Sorge um das Gemeinwohl beauftragten Parlamenten erhalten bleibt. Für die alternative Kulturszene bedeutet das, dass sich am marginalen Status quo ohne eine Veränderung von Wirtschaftsrecht – und -praxis nichts ändern wird.
Die immer dringlicher empfundene Notwendigkeit von Veränderung in den wesentlichen Bereichen unseres Lebens – und wesentlich bedeutet hier: vitale Interessen menschlicher Existenz im physischen Sinn (Öko-logie) und im sozialen Sinn (Zusammenleben) betreffend – wird ohne eine Neugestaltung unserer Art zu produzieren und zu konsumieren, kurz: des Wirtschaftslebens nicht möglich sein. Das Artensterben wird ebenso wenig aufhören wie das Abschmelzen der Polkappen, auch die Regenwälder werden weiterbrennen, solange sich nichts an unserem Wirtschaftssystem ändert, und also wird natürlich auch die Kulturszene im aktuellen Zustand des Prekariats gefangen bleiben, die alternative zumal.
Allerdings ist die notwendige Veränderung des Wirtschaftssystems, anders als viele Menschen und vor allem viele im Kunst- und Kulturbereich Tätige glauben, nicht primär Aufgabe der Wirtschaftswissenschaften und der Wirtschaftspolitik, sondern eine Aufgabe der Kulturszene selbst. Die große Transformation kann nur glücken, wenn es gelingt, die aktuell in allen Bereichen des Lebens, bis hinein in unsere intimsten persönlichen Beziehungen, von den Maximen der Neoklassik und des Neoliberalismus geprägten Denk- und Verhaltensweisen in Richtung einer von sozialen und ökologischen Rücksichten bestimmten Haltung zu verändern. Wie sehr die Prägung durch den Neoliberalismus selbst bei den Widerstre-benden internalisiert ist, zeigt sich nicht zuletzt in der Fragestellung der IG Kultur: Wie kann es in der alternativen Kulturszene nach bzw. mit Covid weitergehen? Wie kann die freie Szene sich krisensicher aufstel-len? Wie kann sie sich finanzieren? Diese auf die durchaus berechtigten Eigeninteressen einer Gruppe bezogenen Fragen sind deutlicher Reflex des ersten Hauptsatzes der neoliberalen Marktreligion: Jeder soll sich auf seine eigenen Interessen konzentrieren und diese mit aller Kraft (und ohne Rücksicht auf andere) verfolgen. Der Markt wird dann mit seinen unsichtbaren Händen alles zum allgemeinen Besten fügen.
Die Gemeinwohl-Ökonomie weist mit Nachdruck darauf hin, dass dieser Hauptsatz der neoliberalen Lehre falsifiziert ist. Die erste Antwort, welche die Gemeinwohl-Ökonomie auf die Fragen der alternativen Kulturszene zu geben hat, bezieht sich deshalb auch zugleich auf die zunächst über-gangene Fragestellung: Welche Möglichkeiten der Veränderungen bieten sich gerade? Da bietet sich nach wie vor Covid die Möglichkeit eines Perspektivenwechsels an, die Option einer Verweigerung der alten Frage-stellungen und ihrer Neuformulierung aus einem universellen Blickwinkel: Wie kann es für alle Glieder unserer Gesellschaft nach bzw. mit Covid weitergehen? Wie können sich unsere liberal und rechtsstaatlich organi-sierten Demokratien krisensicher aufstellen? Wie können Demokratie und Rechtsstaat ihren an Großkonzerne verlorenen Primat bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zurückgewinnen? Wie kann ein sozia-les Gemeinwesen sich und seine wesentlichen Anliegen finanzieren?
Diese im Sinn der Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie veränderte Fragestellung der IG Kultur mag altruistisch wirken, ist dies aber nur scheinbar. Gerade den in Kunst und Kultur Arbeitenden, denen im gegen-wärtigen Wirtschaftssystem keine wirksamen Mittel zur Durchsetzung ihrer berechtigten Ansprüche zur Verfügung stehen, wird die Orientie-rung der Wirtschaft an sozialen und ökologischen Zielen, wie sie von der Gemeinwohl-Ökonomie gefordert wird, unmittelbar nützen. Das ist Folge der vorgesehenen Neudefinition der Wirtschaftsziele. An die Stelle der Fixierung auf das ständige Wachstum des im Bruttoinlands-produkt (BIP) in Geld dargestellten Gesamtwerts aller Güter, Waren und Dienstleistungen, sieht die Gemeinwohl-Ökonomie die Erhebung des Gemeinwohl-Produkts vor, also des Standes der Menschenrechte, von Solidarität und Gerechtigkeit, der ökologischen Nachhaltigkeit, von Transparenz und Mitentscheidung in allen gesellschaftlichen Lebensbe-reichen. Der Nachweis ihres wesentlichen Beitrags in diesen Bereichen wird der alternativen Kulturszene erheblich leichter fallen als die Erfül-lung der gegenwärtigen Primärforderung nach einem Beitrag zum BIP. Mit ermüdender Regelmäßigkeit unterwirft sich die Szene der neolibera-len Logik dieser Forderung mit der eilfertigen Darlegung der von ihr qua Umwegrentabilität generierten Geldwerte, anstatt die inadäquate Frage-stellung mit gebührendem Nachdruck zurückzuweisen und den enormen und unverzichtbaren Mehrwert ihres Schaffens für das Gemeinwohl-Pro-dukt geltend zu machen.
Für Beiträge zum Gemeinwohl-Produkt ist in der aktuellen Wirtschafts-ordnung keine, in einer Gemeinwohl-Ökonomie hingegen eine sehr spürbare materielle Rekompensation vorgesehen. Das wird den in Kunst und Kultur tätigen Menschen massiv zugutekommen. Krisenfestigkeit und eine adäquate wirtschaftliche Absicherung kann es für diese im aktuellen Wirtschaftssystem eben so wenig geben wie für alle anderen Menschen, die nicht für die Akkumulation von Vermögen für Private, sondern für das Gemeinwohl arbeiten: Sozialberufe, Care-Leistungen in der Familie, Landschaftspflege und eben auch Kulturarbeit. Adäquate wirtschaftliche Rekompensation und institutionelle Sicherung (Krisenfestigkeit) kann es für solche Leistungen nur in einem Wirtschaftssystem geben, das durch entsprechende gesetzliche Rahmenbedingungen klar und effizient auf soziale und ökologische Zielsetzungen hin orientiert ist.
Die entsprechende Transformation unseres gegenwärtig bis in unsere Sozialbeziehungen hinein neoliberal deformierten Denkens und Handelns ist in ihrem Kern eine Kulturaufgabe. Die alternative Kulturszene muss sich der Bewältigung dieser Herkulesarbeit programmatisch und mit großer Entschiedenheit zuwenden. Sie wird dabei Erfolg haben, und ihre aktuellen Existenzprobleme werden sich in einer gemeinwohlorientierten Wirtschaft als Kollateralnutzen der großen Transformation lösen.